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Highlights aus MESSIAH

Georg Friedrich Händel
10. Dezember 2023 – Apostel-Paulus-Kirche

THE GREAT COLLABORATION: HANDELS MESSIAH

Kennen Sie ein Musikstück, das seit fast dreihundert Jahren topaktuell ist? Das seit fünfzehn Generationen ununterbrochen gespielt wird? Das in einer Zeit weit vor dem elektrischen Strom, also bei Kerzenlicht, komponiert wurde? Und das seitdem bei Millionen und Abermillionen Menschen in aller Welt ein Gefühl von Bekanntheit, Vertrautheit und Zuversicht ausgelöst hat? Ja, Sie sind genau richtig beim diesjährigen Weihnachtskonzert des Konzertchors Friedenau. Es handelt sich bei dem weltbekannten Stück um das geradezu legendäre Oratorium Messiah des gebürtigen Hallensers und britischen Komponisten George Frideric Handel.

 

Die ersten Takte aus dem Satz 39 des Messiah könnten Sie vermutlich aus dem Stand mitsingen. Aber dazu gleich mehr. Das gesamte Oratorium besteht aus drei Teilen und umfasst insgesamt 48 Sätze. Im Original wird es in einem Frühneuenglisch gesungen, zum Beispiel: Thus saith the Lord. Zur Aufführungsgeschichte des Werkes gehört die Tatsache, dass nicht immer alle Sätze gespielt bzw. gesungen werden. Komplett dauert die Aufführung gut zweieinhalb Stunden. Die vom Dirigenten und Chorleiter des Konzertchors Friedenau Sergi Gili Solé zusammengestellte Fassung beinhaltet 36 Sätze und dauert rund 120 Minuten. Nach dem ersten Teil gibt es eine kurze Pause.

 

Der fulminante Satz 39 beendet den zweiten Teil des Oratoriums. Verschiedentlich dachten die Zuhörer in den Jahrhunderten, damit sei der krönende Schluss erreicht – und standen beim tosenden Halleluja ergriffen auf. Verboten ist das nicht. Aber lauschen Sie doch auch dem dritten Teil des Messiah, in dem wir alle in der Tiefe unserer Seele angesprochen sind: Behold, I tell you a mystery. Den Weg zum ewigen Leben können Sie nur hier finden. Mit einem musikalisch anspruchsvollen, den Himmel wie die Menschen erreichenden Amen ist das Werk dann nach dem dritten Teil über Hoffnung und Erlösung zu Ende.

 

Was für ein Werk! Komponiert in einem wahren Schaffensrausch von nur vier Wochen hat Händel im September 1741 ein Oratorium zu Papier gebracht, in dem die Kernthemen des christlichen Glaubens in Musik auf einzigartige Weise veranschaulicht werden. Da finden sich durchaus bekannte und zur Weihnachtszeit passende Stücke wie For unto us a child is born (uns ist ein Kind geboren) und Glory to God in the highest (Ehre sei Gott in der Höhe). Der Messiah schildert aber weit mehr als nur die Weihnachtsgeschichte. Die theologischen Themen und Fragen von Ostern und Pfingsten sind ebenso gegenwärtig, wenn es im zweiten Teil heißt: He trusted in God (Tod am Kreuz), oder im dritten Teil: I know that my redeemer liveth (Auferstehung).

 

The Messiah, das ist eine Mischung aus biblischer Geschichte und religiöser Reflektion. Verheißung des Messias im Alten Testament, Leben und Wirken Jesu Christi im Neuen Testament, im Messiah wird nun alles zusammengebracht und zusammengedacht und in ewig gültige Musik verwandelt: Jesus Christus ist der sehnlichst erwartete Messias. Und weil er die Sünden der Welt auf sich genommen hat, dürfen wir Menschen auf die Gnade Gottes vertrauen. Forever and ever. Halleluja Halleluja.

 

Bevor Händel das Messiah-Oratorium schuf, hatte er im Alter von 52 Jahren bei einem Schlaganfall dem Tod ins Auge gesehen. Ein Schock für alle Händel-Fans. Vorbei alle Musik, die rechte Hand gelähmt. „Er stirbt!“, dachte sein Diener, als er Händel reglos auf dem Boden im Hause Brookstreet 25 im Londoner Stadtteil Mayfair liegen sah. Der viele Ärger habe es verschuldet, klagt der Diener. „Sie haben ihn zu Tode gequält, diese verfluchten Sänger und Kastraten, die Schmierer und Kritikaster.“ Vier Opern habe Händel in diesem Jahr geschrieben, um das Theater zu retten. „Seine ganzen Ersparnisse hat er eingesetzt, zehntausend Pfund,“ so der Diener, „und nun quälen sie ihn mit Schuldscheinen und hetzen ihn zu Tode!“

 

Woher wir das alles so genau wissen? Von Stefan Zweig, einem Schriftsteller, der in seinen „Sternstunden der Menschheit“ von 1927 ein Kapitel der Entstehungsgeschichte des Messiah gewidmet hat. Überschrift: „Georg Friedrich Händels Auferstehung“. Autor Zweig ist nicht ganz unschuldig am überlieferten Bild des Genius von Gottes Gnaden. Der eine ganz große, der, tief gefallen, dank göttlicher Fügung noch einmal alle Schaffenskraft zusammennimmt und damit die Menschheit für immer beglückt.

 

Detaillierter Einblick in die Vita des Meisters: Den Schlaganfall habe Händel dank ausführlicher Bäderkuren in Aachen einigermaßen überstanden, weiß der Sternstunden-Autor. „Aber die Zeit ist wider ihn.“ Die Theater bleiben leer, und die Schulden türmen sich. „Wozu“, seufzt Händel in den Worten von Stefan Zweig, „hat Gott mich auferstehen lassen aus meiner Krankheit, wenn die Menschen mich wieder begraben?“

 

Da bringt an einem heißen August-Tag im Jahr 1741 ein Bote ein Paket vorbei. Zuoberst liegt ein Brief von Charles Jennens, einem theologisch ambitionierten Librettisten, mit dem Händel schon viel zusammengearbeitet hatte. Er sende ihm, schreibt Zweig, „eine neue Dichtung und hoffe, der hohe Genius der Musik werde sich gnädigst seiner armen Worte erbarmen und sie auf seinen Flügeln dahintragen durch den Äther der Unsterblichkeit.“

 

Was für ein Text! „The Messiah“ steht auf der Titelseite, „a collection from scripture“, eine Zusammenstellung von Bibelversen. Da ist gleich zu Beginn aus Jesaia 40, Vers 1 die Stimme Gottes zu hören: Comfort ye my people, saith your God. Sei getrost, mein Volk! Sodann singt der Chor aus Jesaja 40, Vers 5: And the glory of the Lord shall be revealed, denn die Herrlichkeit Gottes soll offenbart werden.

 

Die von Jennens ausgewählten Bibelstellen wandeln sich bei Händel sofort in Musik. Jesaja 53, Vers 3: He was despised and rejected. Er wurde verachtet und zurückgestoßen. Doch in der Stunde der Ohnmacht war es zu spüren, das tiefe Gottvertrauen, von dem in Psalm 22, Vers 8 die Rede ist: He trusted in God. „Nur der viel gelitten“, so interpretiert es Stefan Zweig, „weiß um die Freude, nur der Geprüfte ahnt die letzte Güte der Begnadigung“. Sodann erklingt im Händelschen Oratorium das erlösende Wort aus dem Psalm 24: Lift up your heads, machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe!

 

Am 14. September 1741 war das Werk beendet. Im Schaffensrausch habe Händel direkt mit Gott gesprochen, ist sich die Nachwelt sicher. Charles Jennens, der Messiah-Ideengeber und theologische Kopf, kommt dabei zu kurz, „der arme Jennens“, so Stefan Zweig, und seine vermeintlich „dürre Rede“.

 

Nach unserem heutigen Verständnis, so hat es die britische Dirigentin und Westminster-Chorleiterin Jane Glover in ihrem 2018 erschienenen Buch über „Handel in London – the making of a genius“ überzeugend dargelegt, spricht Gott nicht mehr nur durch den einen herausragenden Genius.
Vielmehr bilden Text und Musik des Oratoriums eine ganz besondere Einheit. The Messiah, das sei das Ergebnis einer gelungenen Zusammenarbeit („great collaboration“) von äußerst inspirierten Menschen auf der Suche nach Erlösung.

 

Jennens hatte die Idee. Händel hat daraus ein wahrhaft vollendetes Werk geschaffen. Aber noch war nichts zu hören. Wer hat es zuerst gesungen? Wessen Stimme hat dem Messiah zum Durchbruch verholfen? Zur Würdigung des weltberühmten Oratoriums müssen wir noch auf jene Sängerin zu sprechen kommen, die bei der Uraufführung des Stückes ganz entscheidend zum Erfolg beigetragen hat: die Sopranistin Susanna Cibber.

 

Geboren als Susanna Arne im Jahre 1714 erhielt sie schon als Kind Gesangsunterricht. 1733 lernte sie Händel kennen, der ihr geduldig Note für Note beibrachte, da sie zwar außerordentlich gut singen, aber keine Musik lesen konnte. Im April 1734 heiratet Susanna den Schauspieler Theophilus Cibber und hat dadurch Zugang zur Theaterdynastie Cibber. Beim Schwiegervater erhält sie Schauspielunterricht. Sie wird zur bekanntesten Schauspielerin und Sängerin Londons.

 

Große Karriere, unglückliche Ehe. In London schlägt die Klatsch-und-Tratsch-Presse zu. Ihr Mann Theophilus sei der Spielsucht verfallen. Er würde Kleidungstücke und persönliche Gegenstände seiner Frau verkaufen, um seine Gläubiger zu bedienen. Neuerdings habe er sogar, um die Miete bezahlen zu können, einen Untermieter aufgenommen, William Sloper. Zwei Männer, eine Frau. Der Skandal nimmt seinen Lauf. Cibber beschuldigt Sloper, seine Frau „angegriffen, geschändet und fleischlich gekannt zu haben“. Von einem Spion im Schrank ist die Rede.

 

Im folgenden Jahr erneut eine öffentliche Anschuldigung: Sloper habe Cibbers Frau „festgenommen“. Faktisch waren die beiden „zusammen weggelaufen“. Rosenkrieg vom Feinsten: Cibber über seine Ex: „grausam und untreu!“ Susanna über Cibber: „männliche Grausamkeit und Gier!“ Das Leben in London wird für sie unerträglich. Susanna zieht im Herbst 1741 nach Dublin, wo sie am dortigen Theater arbeiten und auftreten kann.

 

Schicksal. Verheißung. Sternstunde der Musikgeschichte. In Dublin kommt es zur erneuten Begegnung mit Händel, der, einer Einladung des Vizekönigs folgend, ebenfalls für eine Saison in die irische Hauptstadt aufgebrochen war. Händel hat seine Komposition des Messiah im Gepäck. Aber erst einmal werden in Dublin bekannte Werke aufgeführt: Acis und Galatea, Esther, Alexanderfest. Das Publikum ist dem Komponisten und der Sängerin außerordentlich gewogen. Hinter den Kulissen wird fleißig geprobt an jenem weltberühmten Stück, dessen Uraufführung allerdings erst noch vom Dekan der St. Patricks Cathedral genehmigt werden muss.

 

Darf man biblische Texte in einem Theater opernartig zu Gehör bringen? Noch dazu gesungen von einer berühmten und wie man hört zwielichtigen Schauspielerin? Große Nervosität bei allen Beteiligten. Da klopfen zwei wohlgekleidete Herren an Händels Wohnungstüre. Sie kämen fragen, ob der Meister nicht in seiner „allbekannten Großmütigkeit das Erträgnis jener ersten Aufführung den wohltätigen Anstalten zuführen“ wolle. Gemeint war das Freikaufen der Gefangenen im Schuldturm und die Pflege der Kranken in Merciers Hospital. Händel zeigt sich entschlossen: „Nein, kein Geld für dieses Werk. Nie will ich je Geld dafür nehmen… Denn ich bin selbst ein Kranker gewesen und bin daran gesundet. Und ich war ein Gefangener, und es hat mich befreit.“

 

13. April 1742. Uraufführung des Messiah im ausverkauften Theater an der Fishamble Street. Händels berühmtestes Werk hat diese eine Chance, als Wohltätigkeitskonzert beim Publikum anzukommen oder für immer verboten zu werden. Und dann Susanna Cibber, der gefallene Star. Sie hat nach all den Skandalen diese eine zweite Chance. Und sie singt sich, in einem Film über Händels Messiah von 2014 ist das auf youtube wunderbar mitzuerleben, direkt in die Herzen der über 700 Konzertbesucher.

 

Was für eine Stimme! He was despised, hebt sie an, despised and rejected, a man of sorrow and aquainted with grief. Nie war der Schmerzensmann so tief empfunden zu Gehör gebracht worden. Das Publikum saß ergriffen in den Reihen. Da springt der Kanzler der St. Patrick’s Cathedral, Referend Dr. Patrick Delany auf und ruft: „Woman, for this all your sins will be forgiven!“ Alle Sünden sind ihr vergeben für diese Musik!

 

Glory to Godin the Highest. Seit 300 Jahren wird der Messiah aufgeführt. Jedes Jahr am 13. April in Dublin, aber auch sonst überall auf der Welt.
In diesem Jahr hat sich auch der Konzertchor Friedenau dem großen Werk verschrieben. 22 Proben, ein Chorwochenende, feinste Koloraturen und großer Klang. Hauptprobe, Generalprobe und nun mitten hinein in die Aufführung.

 

Achim Kühne-Henrichs

Kontakt

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Ansprechpartnerin für MitsingkonzerteAndrea Müller E-Mail senden
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